Ricardo Bofill ist tot. Er baute Versailles für das Volk (2024)

Als prominenter Exponent der Postmoderne in der Architektur war der Spanier nicht überall beliebt. «Pueblos und Paläste sind meine Inspirationsquelle», sagte er über sich, und: «Meine Stil-Auffassungen sind Ergebnis meiner Reisen.»

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Die postmoderne Architektur scheint heute so ungeliebt zu sein wie die moderne Architektur in den späten 1960er Jahren. Nur wenige Zeitgenossen sehen ihren Wert hinter der dicken Schicht von Kitsch und Unbeholfenheit, die in der späteren Phase der Postmoderne entstanden ist.

Unter den europäischen Schwergewichten der PoMo, neben Aldo Rossi oder den Krier-Brüdern, ist auch der am 5.Dezember 1939 geborene spanische Architekt Ricardo Bofill Leví der am wenigsten theoretische und zugleich produktivste. Nun starb er am 14.Januar im Alter von 82 Jahren in Barcelona.

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Sohn eines Bauunternehmers

Bofill hat Hunderte von Gebäuden in Dutzenden von Ländern entworfen – Tausende von Menschen leben in Wohnungen, die er entworfen hat – und ist damit der am meisten unterschätzte Architekt seiner Generation. Bofill wurde im Jahr 1939 in Barcelona geboren und entwickelte sich schnell zum «Duracell-Hasen» der postmodernen Architektur.

Die Grösse seines Portfolios steht in krassem Gegensatz zum Mangel an Anerkennung durch Kritik und Presse. Sein Vater sei ein katalanischer Architekt und die Mutter eine Jüdin aus Venedig, so Bofill selbst. Die Tatsache, dass sein Vater zugleich ein einflussreicher Bauunternehmer war, half dem Junior, seine Fähigkeiten schon früh auf die Probe zu stellen. Als Teenager entwarf Bofill sein erstes Werk, ein Sommerhaus auf Ibiza, mit 23 Jahren leitete er sein eigenes Büro Taller de Arquitectura.

Aus dem Umbau einer ehemaligen Zementfabrik zu seinem Atelier und Wohnhaus wurde ein Entwurfsmanifest: Die acht Zementsilos verwandelte Bofill in einen wahrhaftigen Palast mit einer Art Kathedrale als Besprechungsraum. Zement ist der Hauptbestandteil des bevorzugten Baumaterials von Bofill: Betonfertigteile. Weil Gebäude aus Betonfertigteilen langweilig sein können, gab Bofill ihnen donnernde pseudo-klassizistische Dekors und Formen.

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Wohnstadt mit Schlosscharakter

Der Walden-7-Wohnkomplex in Sant Just Desvern von 1975 war ein Cluster von Hunderten von Wohnungen als eigenständige Miniatur-Megastadt. Der Name des Gebäudes war inspiriert von «Walden Two», B.F. Skinners Science-Fiction-Roman, der eine utopische Gemeinschaft darstellt. Bofills Komposition sollte «die Monotonie der Vorfertigung auflösen». Die Türme bilden ein vertikales Labyrinth mit sieben Innenhöfen, die Fenster an der Modul-Wohnungen sind klein und in einer Einheitsgrösse.

Das Projekt experimentierte mit neuen Eigentums- und Familienmodellen. Bewohner konnten horizontal oder vertikal zwei oder drei Module bewohnen, Finanzierung, Bau und Verkauf der Wohnungen wurden vom Architekten übernommen. Im Jahr 1967 veröffentlichte Bofill sein Manifest «La Ciudad en el Espacio» (Die Stadt im Raum), in dem er sich mit historischen Stilen befasste und mit dem Funktionalismus der Nachkriegsmoderne brach.

Kurz nachdem die Studentenproteste von 1968 Europa auf den Kopf gestellt hatten, gründete Bofill eine Büro-Niederlassung in Paris und begann an mehreren riesigen Satelliten-Städten in Frankreich zu arbeiten. Da das soziale und gestalterische Elend der Banlieue sprichwörtlich ist, verwendete Bofill ein Übermass an Symbolik, die den billig gebauten Wohnblöcken monumentalen Ausdruck verliehen. Das bekannteste Beispiel für Bofills Ansatz ist die Maison d’Abraxas, ein «bewohntes Denkmal» im Pariser Vorort Noisy-le-Grand. Die Blöcke wurden nicht als anonyme Plattenbauten, sondern als «Versailles für das Volk» bekannt – ein Widerspruch an sich.

«Stadt als Ergebnis der Nachfrage»

In den 1960er Jahren war Spanien wegen der Landflucht mit starker Wohnungsnot konfrontiert. Die Vorfertigung schien der Ausweg zu sein. Im Unterschied zu Archigram in England, den Metabolisten in Japan, Moshe Safdies Habitat in Kanada sah Bofill in seinen Projekten jedoch keine Infrastruktur vor, in die vorgefertigte Einheiten eingebaut wurden.

Seine Entwürfe waren einfache, auf Wachstum ausgelegte Low-Tech-Aggregationen. Die Franco-Regierung unterstütze diese Projekte nicht, aber Bofill sah in seinen pragmatischen Siedlungen einen Abschied von der utopischen Moral. Er sah «Stadt als Ergebnis der Nachfrage», die für immer unvollendet bleiben würde.

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Bofill war einer der ersten spanischen Architekten, die ins Ausland gereist sind und dort gearbeitet haben. «Ich entwerfe keine internationale Architektur», sagte er dennoch. «Meine Kultur ist das Mittelmeer, und meine Stil-Auffassungen sind Ergebnis meiner Reisen.» Der in den 1980er Jahren in Montpellier erbaute Antigone-Komplex mit seinen absurden Formen und Geometrien war der Höhepunkt von Bofills Betonfertigteil-Entwürfen. «Pueblos und Paläste sind meine Inspirationsquelle», sagte Bofill.

Gegen die Lächerlichkeit

Mit der zunehmenden Lächerlichkeit der postmodernen Architekturen wandte sich Bofill plötzlich Glas- und Stahlfassaden zu und baute die Hauptsitze einiger grosser französischer Finanzunternehmen wie BNP Paribas, Axa oder GAN. Bofill wurde zugleich zum Lieblingsarchitekten der französischen Haute Couture und entwarf für Cartier und Dior.

Hinzu kamen städtebauliche Grossentwürfe wie für den Hafen von Barcelona und die Flughäfen von Barcelona und Malaga. Dank seiner chamäleonartigen Persönlichkeit konnte Bofill auf der ganzen Welt entwerfen. Der «77 West Wacker Drive» in Chicago beispielsweise ist ein 50-stöckiger Büroturm und das bekannteste Beispiel für postmoderne Architektur in der Stadt von Ludwig Mies van der Rohe und Skidmore, Owings & Merrill. Die Hochhausfassade am Chicago River wird von portugiesischem Weissgranit umrahmt, mit horizontalen Lisenen, die durch Pilaster verbunden sind, und einem Dachgeschoss in Form eines griechischen Giebels.

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Er war weder schüchtern noch bescheiden: Das Shiseido-Gebäude in Tokio versucht durch Sachlichkeit im hell erleuchteten visuellen Overkill der Ginza aufzufallen. Die Niederlassung des japanischen Kosmetikunternehmens hat rote Stuckfassaden mit hohen Fenstern und niedlichen Markisen. Drei Jahre zuvor hatte Bofill in derselben Stadt den Aoyama Palacio am östlichen Ende des Omotesando Boulevards entworfen – eine Beleidigung für den guten Geschmack: Flache Giebel sind hier wie Aufkleber an der kindlichen Fassade angebracht.

«Als junger Mann wollte ich berühmt sein, danach habe ich einfach weitergemacht, nach meinen eigenen Prinzipien», sagte Bofill über seine lange Karriere: Das Einzige, was seine Entwürfe verbindet, ist die Behauptung, dass «jeder als Teil einer Stadt konzipiert ist», eine zentrale Idee des postmodernen Denkens. «Um kreativ zu sein, braucht man kontrollierte Angst», sagte der paranoide Entwerfer anlässlich einer Rückschau auf sein Œuvre, «der Schöpfer muss an der Grenze zum Wahnsinn stehen.»

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